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21. Dezember 2020

"Das Misstrauen hat sich über Jahrzehnte entwickelt"

Prof. Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz über den Zusammenhang der Corona-Krise in Sachsen und den dortigen Zuspruch für die AfD. (Zeit Online, 18.12.2020)

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Corona-Krise in Sachsen und dem dortigen Zuspruch für die AfD? Der Soziologe Raj Kollmorgen hält die These für plausibel.

Raj Kollmorgen erlebt die zweite Corona-Welle direkt in seiner Umgebung. Besonders dramatisch ist es in Sachsen, derzeit der Corona-Hotspot des Landes. Kollmorgen ist Sozialwissenschaftler und lehrt an der Hochschule Zittau/Görlitz. Auch dort, in Ostsachsen, ist das Infektionsgeschehen extrem hoch, steigen die Neuinfektionen und Patientenzahlen täglich. Warum das Virus hier so heftig wütet, hat viele Ursachen. Es liegt auch an einer Widerstandshaltung gegen die Corona-Politik in Teilen der Bevölkerung, sagt Kollmorgen.
 

ZEIT ONLINE: Herr Kollmorgen, Sie leben im sächsischen Landkreis Görlitz. Die Corona-Inzidenz liegt dort aktuell bei etwa 700, der höchste Wert in Deutschland. Überrascht Sie diese Entwicklung?

Raj Kollmorgen: Einerseits ja, weil wir im Frühjahr, während der ersten Corona-Welle, eine beschauliche Region waren mit sehr niedrigen Fallzahlen. Insofern bin ich schon überrascht, wie sich das nun um 180 Grad gedreht hat. Andererseits erstaunt es mich nicht, denn es gibt eine Reihe von Faktoren, welche die Epidemie in unserer Region begünstigen. Ein Faktor sind politische Mentalitäten. Teile der Bevölkerung sind grundsätzlich skeptisch gegenüber den Entscheidungen der Politik, nicht wenige sehen sich sogar im Widerstand und protestieren. Das hat sich in den vergangenen Monaten noch einmal verschärft.

ZEIT ONLINE: An der Bundesstraße 96 protestieren seit Monaten Menschen, teils mit rechtsextremen Symbolen. In Zittau gab es Kundgebungen gegen die Corona-Politik. Auch einen sogenannten "Totenzug" vor einigen Wochen. Da sind Menschen mit einem leeren Sarg durch die Stadt gelaufen und haben gerufen: "Wo sind die Toten?" Was ist das für ein Milieu, das so protestiert?

Kollmorgen: Es handelt sich um heterogene soziale und politische Milieus. Es gibt zum Beispiel die Enttäuschten, deren System- und Elitenmisstrauen sich über Jahrzehnte entwickelt hat. Das reicht bei einigen bis tief in die Neunzigerjahre zurück. In diesem Milieu hat sich der Verdacht ausgehärtet, dass die Exekutive nicht nur fern der Bevölkerung agiert und sich für diese nicht interessiert. Ihr wird auch unterstellt, dass sie die Macht monopolisiert, um persönliche Vorteile zu erlangen. Verschwörungstheorien zur Pandemie fallen da rasch auf fruchtbaren Boden. Wir haben, speziell in den ländlichen Räumen Sachsens, aber auch größere Gruppen, die von der Corona-Krise besonders hart betroffen sind. Die hier dominierenden kleinen Selbstständigen und mittelständischen Unternehmen zum Beispiel der Zulieferindustrie, Tourismusbranche oder im Einzelhandel leiden stark unter der Shutdown-Situation.

ZEIT ONLINE: Der Soziologe Matthias Quent vermutet einen Zusammenhang zwischen hohen Corona-Infektionszahlen und hohen AfD-Wahlergebnissen. Was halten Sie von dieser These?

Kollmorgen: Ich halte diese These für plausibel. Die AfD hat zunächst damit gerungen, welche Strategie sie bei der Pandemie einschlagen soll. Gerade die ostdeutschen Landesverbände sehen sich aber mittlerweile als parlamentarischer Arm der Querdenker-Bewegung. Die AfD nährt sich von Krisen und die Corona-Krise ist insofern ein willkommener Baustein, um ihre These zu untermauern, dass die etablierten Eliten im Kern gegen das "eigene Volk" arbeiten. Dabei ist diese Ansicht im ländlichen Sachsen verbreiteter als in anderen Bundesländern. Ich schätze, dass es hier etwa 10 bis 15 Prozent mehr Menschen als in Vergleichsregionen gibt, die zu Distanz, Fundamentalkritik und Widerstand gegenüber den Regierenden neigen. Das korreliert durchaus mit den AfD-Wahlergebnissen.

ZEIT ONLINE: Die AfD-Wahlergebnisse sind im Osten tendenziell höher als in Westdeutschland. Gibt es also einen Ostfaktor beim Infektionsgeschehen?

Kollmorgen: Hier empfehle ich, das Infektionsgeschehen nicht gesellschaftspolitisch zu überladen. Das setzt sich aus vielen Mosaiksteinen zusammen. Die Altersstruktur ist etwa ebenso relevant wie die Bildungsstruktur. Menschen mit höherer Bildung nehmen im Regelfall die Pandemie ernster als weniger Gebildete. Darüber hinaus spielen sozialgeografische Faktoren wie die Bevölkerungsdichte eine Rolle. In Mecklenburg-Vorpommern, wo die Infektionszahlen gerade niedriger sind, leben die Menschen auf den Dörfern zum Teil viel weiter auseinander. Es gibt weniger Nähe, weniger Zusammentreffen als zum Beispiel im sächsischen Erzgebirge. Dort ist es auch ländlich, aber zugleich ist die soziale Dichte deutlich höher.

ZEIT ONLINE: Für wie stark halten Sie den Einfluss von evangelikalen Gruppen bei Corona-Protesten?

Kollmorgen: Ich nehme bei den Protesten keine offene Religiosität oder gar breite Unterstützung durch kirchliche Gruppen wahr. Allerdings sind rechtspopulistische Einstellungen in Ost- und Westdeutschland besonders dort verbreitet, wo es starke protestantische Traditionen gibt, wie etwa in Baden-Württemberg oder in Sachsen. Hier sehe ich einen Zusammenhang, der aber eher auf langfristig gewachsene soziale und politische Kulturen verweist.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt die Nähe zu Tschechien und Polen beim Infektionsgeschehen?

Kollmorgen: Die erste Welle kam zunächst aus dem Südosten, auch durch viele Winterurlauber. Wenn man sich jetzt die zweite Welle anschaut, findet man Gründe, warum sich das Virus derzeit besonders heftig in Bayern und Sachsen, vor allem in den Grenzregionen, verbreitet. Es gab in Tschechien und Polen früh im Herbst hohe Infektionszahlen. In den Grenzregionen pendeln viele Erwerbstätige nach Deutschland, wobei von diesen ein hoher Anteil in Dienstleistungsberufen oder im Gesundheits- und Pflegesektor arbeitet. Dass dies nicht ohne Folgen für die Pandemie bleiben konnte, liegt auf der Hand. Politiker und Politikerinnen haben das aber in den vergangenen Wochen eher wenig thematisiert, weil sie weder massive Engpässe gerade im Gesundheitsbereich riskieren wollten noch eine fremdenfeindliche Debatte.

ZEIT ONLINE: Sachsen ist im Frühjahr glimpflich durch die erste Welle gekommen. Hat sich das auch ausgewirkt auf die Einstellungen zu Corona?

Kollmorgen: Die Infektionszahlen im Frühjahr waren eher niedrig, sodass viele die Pandemie nicht ernst genommen haben. Sie erschien weit weg und kaum bedrohlich. Die Skeptiker und Protestierenden hatten es auch deshalb leicht, mit ihren Positionen Gehör zu finden. Das hat sich in den vergangenen 14 Tagen aber erheblich geändert. Gerade diejenigen, die in ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis Menschen erleben oder auch von ihnen hören, bei denen schwere Krankheitsverläufe auftreten, schätzen die Gesamtsituation anders ein. Das ist ein Lernprozess, der sich gerade beschleunigt.

ZEIT ONLINE: Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer war in den vergangenen Monaten auch bei Gesprächen mit Corona-Protestlern. Er hat sich im Sommer vertraulich getroffen mit Sucharit Bhakdi, Stefan Homburg und anderen Vertretern, die alle eine große Nähe zur Verschwörungsszene haben. Ist Kretschmers Offenheit zu diesen Lagern ein Fehler, wenn man nun die hohen Infektionszahlen in seinem Bundesland sieht?

Kollmorgen: Man muss sagen, dass er mit diesen Gesprächen seinem Politikstil treu geblieben ist. Er zeigt hier eine Konsequenz, die ich sympathisch finde. Eher problematisch finde ich demgegenüber, dass er sich jetzt zum Vorkämpfer einer harten Pandemiepolitik erklärt und kaum bereit scheint, sich mit Kritik an seiner bisherigen Linie ernsthaft auseinanderzusetzen. Das hielte ich aber für sinnvoll, gerade mit Blick auf den weiteren Verlauf und mögliche neue Krisen. Diese öffentliche Abweisung von Kritik an bisherigen Politikansätzen und Maßnahmen teilt er mit vielen Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen und Regierenden im Allgemeinen. Und eines bleibt auch richtig: Wer in solchen Krisenzeiten regiert, hat es mit großer Verantwortung und hohem Entscheidungsdruck unter unsicheren Bedingungen zu tun. Ich kann insofern die Handlungsnöte der Regierungschefs nachvollziehen und möchte nicht mit ihnen tauschen.

 

Interview: Doreen Reinhard

Foto: Prof. Dr. phil. habil. Raj Kollmorgen
Prof. Dr. phil. habil.
Raj Kollmorgen
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