18. September 2020

Zwei Patienten, ein Beatmungsgerät

Und nun? Mit Covid-19 kam die Thematik der Triage, dem Sichten und Klassifizieren von Patienten, erneut auf. Ein Interview mit Medizinrechtsexperte Prof. Dr. Erik Hahn.

Braucht es Triage-Gerichte und wie wichtig ist lebenslanges Lernen für Mediziner? Gesetzlich reguliert ist die Frage, wer bei einer Überforderung des Gesundheitssystems zuerst behandelt werden sollte, bis heute nicht. Prof. Dr. Erik Hahn gibt dazu in der SZ Antworten.

Wer entscheidet denn, wer behandelt wird und wer nicht?

Unabhängig vom Vorliegen einer Katastrophensituation kann die Sichtung und Priorisierung von Patienten nur durch Ärzte erfolgen. Maßgeblich sind dabei in erster Linie medizinische Kriterien wie die Erfolgsaussichten und die Dringlichkeit der Behandlung. Das kann auch in einem Notfall nur ärztlich beurteilt werden. Wie in jeder anderen Lebenssituation schützt das den Arzt natürlich nicht davor, dass die Rechtmäßigkeit der von ihm getroffenen Entscheidung im Nachhinein juristisch überprüft wird.

Welche rechtlichen Fragestellungen hat die Corona-Pandemie aufgeworfen?

Bei einem großen Bahnunglück muss der Notarzt noch am Unfallort entscheiden, welche der verletzten Personen er zuerst behandelt, welche noch etwas warten können und – schlimmstenfalls – welche Betroffenen trotz bestmöglichen Bemühens keine Chance auf Rettung haben. In der Corona-Situation kann es sein, dass zunächst ein mittelgradig behandlungsbedürftiger Patient an eine lebenserhaltende Maschine angeschlossen wurde und nun ein weiterer noch dringender behandlungsbedürftiger Patient in das Krankenhaus eingeliefert wird. Hier stellt sich die Frage, ob die Behandlung des ersten zu Gunsten des zweiten Patienten eingestellt oder zumindest reduziert werden darf. Noch gravierendere Probleme wirft die Frage auf, ob ein Patient mit geringeren Heilungschancen bei einem Mangel an Beatmungsgeräten zu Gunsten eines anderen Patienten mit größeren Heilungschancen wieder abgeschlossen werden darf. Eine Auswahl nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten bei der Aufnahme der Behandlung wird unter Medizinrechtlern weitgehend akzeptiert, da die Rechtsordnung von niemandem Unmögliches verlangen kann. Dagegen lehnen gewichtige Stimmen – unter anderem der Deutsche Ethikrat – das Recht des Arztes ab, einen bereits angeschlossenen Patienten nach den genannten Kriterien zu Gunsten eines anderen wieder von der Maschine zu entfernen.

Wie beurteilen Sie das Konzept des Ethikrates?

Die strikte Differenzierung zwischen aktivem Tun und Unterlassen überzeugt mich nicht. Sie entspricht auch nicht der Parallelentwicklung bei der Umsetzung von Patientenverfügungen. Der Ethikrat verweist darauf, dass ein Arzt, der in einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung trifft, wohl auf eine entschuldigende Nachsicht der Rechtsordnung hoffen könne. Dieses Konzept enthält allerdings noch so viele Fragezeichen, dass es den tatsächlich entscheidenden und dann eventuell von Strafverfolgung bedrohten Arzt kaum beruhigen dürfte. Tragfähiger werden diese Überlegungen allenfalls, wenn man das Prinzip des Zufalls akzeptiert und dessen nachträgliche Korrektur ablehnt. Ein Patient, der kurz vor einem anderen Patienten den letzten freien Beatmungsplatz erhielt, hat nach diesem Konzept ebenso Glück gehabt wie ein Organempfänger, der im entscheidenden Zeitpunkt die besseren Kriterien aufweist als andere Personen auf der Warteliste.

Braucht es aus Ihrer Sicht Triage-Gerichte?

Triage-Gerichte bringen aus meiner Sicht keine substanzielle Verbesserung. Ohne Zweifel befindet sich der Arzt in einem ethischen Dilemma. Dieses Problem kann jedoch auch ein spezielles Triage-Gericht nicht auflösen. Die Idee der Errichtung solcher Gerichte geht auf Überlegungen zurück, die zum einen – überzeugend – die generelle moralische Überlegenheit von Ärzten bezweifelt, jedoch zum anderen – nicht überzeugend – mit dem Argument der demokratischen Legitimation spezielle Entscheidungsgremien gefordert haben. Meines Erachtens wird so das Problem nur verlagert, wenn nicht sogar verschleiert. Die Gerichte müssten sich bei ihrer Entscheidung wieder auf eine ärztliche Einschätzung der medizinischen Situation, insbesondere nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten, stützen.

Das komplette Interview mit Prof. Dr. Hahn gibt es zum Nachlesen in der der Sächsischen Zeitung.

Ihr Ansprechpartner
Prof. Dr. iur. habil. Dr. rer. medic.
Erik Hahn
Fakultät Sozialwissenschaften
02826 Görlitz
Furtstraße 2
Gebäude G I, Raum 2.22
2. Obergschoss
+49 3581 374-4619